07. July 2023
Wie fühlte sich damals die Zeit an? Dauerte früher eine Sekunde länger als heute? Wem lauschen wir, um zu verstehen, was geschah? Und wie können wir uns in eine Zeit hineinversetzen, wenn die Zeitzeug*innen bereits verstummt sind? Frida Edelmann-Knöpfel, die von 1864-1921 in Lichtensteig lebte, war eine neugierige und aufmerksame Beobachterin ihrer Zeit. Dem Entrinnen der Zeit entgegenwirkend, schrieb Frida ihre Alltagserfahrungen in Mundart nieder und gab dadurch der Nachwelt die Möglichkeit, in ihre Gedankenwelt vorzudringen. Sie schrieb über die Mühen ihrer Mutter, die Beziehung zu ihrem Ehemann, ihre Kinder, über das Leben im Städtchen und gehörte damit zu den wenigen Frauen ihrer Zeit, deren Schriften überliefert wurden. Als Hommage an Frida, haben die Künstler:innen Karin Karinna Bühler, Martina Morger, Reto Müller, Lika Nüssli und Thomas Stüssi, neue Werke geschaffen, die von Fridas Erinnerungen inspiriert sind. Die Werke, welche im «öffentlichen Raum» der Gemeinde Lichtensteig installiert werden, feiern am 7. Juli 2023 Vernissage und werden dann dauerhaft im Städtchen gezeigt. Die Ausstellung wird von Marcel Hörler mit der Unterstützung von Maura Kressig und Jost Kirchgraber kuratiert.
https://rathausfuerkultur.ch/programm/karte/
Karin Karinna Bühler
Nicht um mein flüchtig Gut der Zeit
2023
«D Mueter ischt meh ernscht und streng gsi, i tenke, vo erer Erziehig her, im ene einsame Puurehus z Krinau, wo s wenig z esse, aber vil z spuelen und z webe ggää hät. Do hend s müesen im moffige Cheller setzen und schaffen und singe, aber nöd öppe wie de Vater loschtegi Liedli, nei Cherchelieder und nüt anders. So daß denn i erer Not emol drof cho sind, d Wörter omzchehre (...).»
Frida Edelmann-Knöpfel (1864-1921)
Die Textarbeit von Karin Karinna Bühler macht auf die beengenden Verhältnisse aufmerksam, die in unserer patriarchal geprägten Gesellschaft noch immer bestehen. Die Arbeit kann als Zeichen des Aufbegehrens gelesen werden. Die Aussenfassade des Fachwerkhauses – im 18. Jahrhundert war hier die katholische Schule untergebracht – wird durch das Werk zum Medium der Befreiung und des Widerstandes. Beim Eindunkeln beginnt die Schrift zu leuchten, für die Unterdrückten, Unsichtbaren, welche ihre Stimmen nicht erheben können.
Dank: Livia Weishaupt, Vermessung der Fassade; Beatrice Jakubowski, Hausbesitzerin
Lika Nüssli
Frida, kleine Rebellin
2023
«Alls isch guet ggange, bis s gheiße hät, mer seied jetz groß genug zom lesme lerne. Das isch mer zweder gsi. (...) Jedi zweit Masche ischt uf ond druß, und i ham mer au gär kei Müeh ggee. D Jompfer Roos hät mer entsetzt d Arbet us de Hand gnoo und verlangt: «Säg schö: Sind Sie so guet und nend S mer d Maschen uf!» Well das aber nüt wenigers als min Wunsch gsi isch, han is eifach nöd gseit.»
Frida Edelmann-Knöpfel (1864-1921)
Im Eigensinn und in der Widerspenstigkeit von Frida erkennt sich Lika Nüssli wieder. Für die drei Objekte beim alten Schäfli, am Brunnen in der Löwengasse und an der Abzweigung beim Ortseingang erarbeitete die Künstlerin nichtfunktionale Textilstücke. Diese wurden mittels Abgusstechnik in der Giessereiwerkstatt von und mit Laila Pauli in Acryl übersetzt und aufgewertet. Durch das Aufnehmens von fallengelassenen Maschen – hier könnte durchaus auch die Redensart «durch die Maschen fallen» aufgegriffen werden – verweist Lika auf ein zentrales Thema des Feminismus: die Hausarbeit, Fürsorge, das Pflegen und das Sich-Kümmern (Care-Arbeit) als gering geschätzter Bereich und gleichzeitig Antriebskraft einer funktionierenden Gesellschaft.
Dank: Gabrielle Gern, Hausbesitzerin; Gemeinde Lichtensteig
Thomas Stüssi
kurze Hosen aber grosses Herz
2023
«I ha uf und bar ugseh wien e Töchterli, wo gad us em Welschland heichonnt. Mim Maa han i ganz famos drin gfale. Aber e Gattig hät s söß scho gmachet: Ii i dem Backfischkoschtüm, und er im Zylinder (...) und z chorze Hose – gär, gär nöd schick! Jono, han i tenkt, s chonnt ufs Herz a, nöd uf di chorze Hose. Und daß seb nöd z chorz cho ischt, seb han i sider scho mengmol erfahre.»
Frida Edelmann-Knöpfel (1864-1921)
Thomas Stüssis Eingriff in das Ortsbild, die bestehende Bausubstanz, zeigt auf humorvolle Art und Weise, wie durch clevere Nachahmung und den Einbezug von Stimmen die Geschichte neu befragt werden kann. Der Künstler nutzt die kurzen Hosen von Fridas Gatten Jakob Edelmann als Anlass für seinen künstlerischen Prozess, um über den Goldenen Schnitt eine Referenz zu Jost Bürgis mathematischen Arbeiten zu machen und eine ästhetische Kürzung der Hosen vorzuschlagen. Durch diese Perfektion im Unperfekten entsteht ein interdisziplinärer Dialog über die Generationen hinweg, zwischen Frida, Jost und Thomas.
Dank: Thomas Billeter, Hausbesitzer
Martina Morger
Bella Bells
2023
«Denn han i öppe gmüedet und pfnächzet, öb i jetz denn chöm veruse ode go Bürli verträge oder so, bis si denn aagfange hät predige: «Schäm di ämel au, so e großes Maitli! (...) Drof hät ämel d Mueter gseit, met strengem Blick: «Do ghöörsch es!» (...) Denn hät d Hänsebergeri gseit: «Muescht nöd omebeffle! Das hät üsers Berteli sälig nie tue.» Und i ha tenkt: «Wenn di no de Gugger hole wör, dii, samt dim Berteli sälig.»
Frida Edelmann-Knöpfel (1864-1921)
Am 7. Juli 2023 durchschreitet Martina Morger mit einer Schleppe die Hauptgasse von Lichtensteig. Sie schleift ein Objekt mit Glocken, die Innereien ähneln, geräuschvoll auf dem Boden hinter sich her. Die Glocken können hier sowohl als Zeichen der Ankündigung als auch der Warnung dienen. «Do ghöörsch es!» spricht die Künstlerin auf ihrem Gang vor sich hin und verkörpert die Figur Frida, die 92 Jahre nach ihrem Tod auferstanden ist, um die Worte ihrer Mutter wiederzugeben. Bei der Krone hievt sie schliesslich das Objekt hoch und befestigt es am Obertor. Die Performance ist ein emanzipatorischer Akt, der das Thema des geteilten Leids behandelt und eine Anregung zum Nachdenken über die Geschichtsschreibung: Wer schreibt Geschichte? Wie kann Geschichte neu geschrieben werden? Wie wird Geschichte erzählt?
Dank: Sabina Gränicher, Geschäftsleiterin Chäswelt Toggenburg
Reto Müller
Tafel-Moränensteine-Säule für Lichtensteig
2023
«So e Bachstobe ischt wien e Tubehuus. Do chonnt eso e Wertsfrau, sei s d Pfauewerti, sei s d Leuewerti: «Hend er no frischi Püürli?» Denn e Magd, denn en Goof: «E nüpaches Brot, aber e guet paches» di ei; «nöd so e starch paches» di ander, «me chönnd s nöd biiße.» Eini bringt meh oder weniger appetitlechi Fladeschloorzi, und di ei e Blech voll Chrömli: me sölled s’ämel o nöd verbrene. So lauft und goot all näbis, und so Beckegofe hend e chorzwiligs Lebe.
Frida Edelmann-Knöpfel (1864-1921)
Die dreiteilige Arbeit von Reto Müller besteht aus einer Infotafel mit einem Text von Vincent Hofmann am Eingang zum Parkhaus Wolfhalden; einem in dessen Windungen angebrachten Relief aus Naturstein und einer Basaltsäule als stille Begleiterin im Aufzug am Fusse des brutalistischen Kirchenbaus. Die Arbeit lenkt den Blick auf die Bedeutung von flüchtigen Begegnungen als Teil eines verschlungenen Lebensweges. Erst in der Kombination der drei Teile, will heissen im Abschreiten dieser, eröffnet sich die Fülle an Perspektivenwechseln und lässt zudem den Raum erfahrbar machen.
07. July 2023
Wie fühlte sich damals die Zeit an? Dauerte früher eine Sekunde länger als heute? Wem lauschen wir, um zu verstehen, was geschah? Und wie können wir uns in eine Zeit hineinversetzen, wenn die Zeitzeug*innen bereits verstummt sind? Frida Edelmann-Knöpfel, die von 1864-1921 in Lichtensteig lebte, war eine neugierige und aufmerksame Beobachterin ihrer Zeit. Dem Entrinnen der Zeit entgegenwirkend, schrieb Frida ihre Alltagserfahrungen in Mundart nieder und gab dadurch der Nachwelt die Möglichkeit, in ihre Gedankenwelt vorzudringen. Sie schrieb über die Mühen ihrer Mutter, die Beziehung zu ihrem Ehemann, ihre Kinder, über das Leben im Städtchen und gehörte damit zu den wenigen Frauen ihrer Zeit, deren Schriften überliefert wurden. Als Hommage an Frida, haben die Künstler:innen Karin Karinna Bühler, Martina Morger, Reto Müller, Lika Nüssli und Thomas Stüssi, neue Werke geschaffen, die von Fridas Erinnerungen inspiriert sind. Die Werke, welche im «öffentlichen Raum» der Gemeinde Lichtensteig installiert werden, feiern am 7. Juli 2023 Vernissage und werden dann dauerhaft im Städtchen gezeigt. Die Ausstellung wird von Marcel Hörler mit der Unterstützung von Maura Kressig und Jost Kirchgraber kuratiert.
https://rathausfuerkultur.ch/programm/karte/
Karin Karinna Bühler
Nicht um mein flüchtig Gut der Zeit
2023
«D Mueter ischt meh ernscht und streng gsi, i tenke, vo erer Erziehig her, im ene einsame Puurehus z Krinau, wo s wenig z esse, aber vil z spuelen und z webe ggää hät. Do hend s müesen im moffige Cheller setzen und schaffen und singe, aber nöd öppe wie de Vater loschtegi Liedli, nei Cherchelieder und nüt anders. So daß denn i erer Not emol drof cho sind, d Wörter omzchehre (...).»
Frida Edelmann-Knöpfel (1864-1921)
Die Textarbeit von Karin Karinna Bühler macht auf die beengenden Verhältnisse aufmerksam, die in unserer patriarchal geprägten Gesellschaft noch immer bestehen. Die Arbeit kann als Zeichen des Aufbegehrens gelesen werden. Die Aussenfassade des Fachwerkhauses – im 18. Jahrhundert war hier die katholische Schule untergebracht – wird durch das Werk zum Medium der Befreiung und des Widerstandes. Beim Eindunkeln beginnt die Schrift zu leuchten, für die Unterdrückten, Unsichtbaren, welche ihre Stimmen nicht erheben können.
Dank: Livia Weishaupt, Vermessung der Fassade; Beatrice Jakubowski, Hausbesitzerin
Lika Nüssli
Frida, kleine Rebellin
2023
«Alls isch guet ggange, bis s gheiße hät, mer seied jetz groß genug zom lesme lerne. Das isch mer zweder gsi. (...) Jedi zweit Masche ischt uf ond druß, und i ham mer au gär kei Müeh ggee. D Jompfer Roos hät mer entsetzt d Arbet us de Hand gnoo und verlangt: «Säg schö: Sind Sie so guet und nend S mer d Maschen uf!» Well das aber nüt wenigers als min Wunsch gsi isch, han is eifach nöd gseit.»
Frida Edelmann-Knöpfel (1864-1921)
Im Eigensinn und in der Widerspenstigkeit von Frida erkennt sich Lika Nüssli wieder. Für die drei Objekte beim alten Schäfli, am Brunnen in der Löwengasse und an der Abzweigung beim Ortseingang erarbeitete die Künstlerin nichtfunktionale Textilstücke. Diese wurden mittels Abgusstechnik in der Giessereiwerkstatt von und mit Laila Pauli in Acryl übersetzt und aufgewertet. Durch das Aufnehmens von fallengelassenen Maschen – hier könnte durchaus auch die Redensart «durch die Maschen fallen» aufgegriffen werden – verweist Lika auf ein zentrales Thema des Feminismus: die Hausarbeit, Fürsorge, das Pflegen und das Sich-Kümmern (Care-Arbeit) als gering geschätzter Bereich und gleichzeitig Antriebskraft einer funktionierenden Gesellschaft.
Dank: Gabrielle Gern, Hausbesitzerin; Gemeinde Lichtensteig
Thomas Stüssi
kurze Hosen aber grosses Herz
2023
«I ha uf und bar ugseh wien e Töchterli, wo gad us em Welschland heichonnt. Mim Maa han i ganz famos drin gfale. Aber e Gattig hät s söß scho gmachet: Ii i dem Backfischkoschtüm, und er im Zylinder (...) und z chorze Hose – gär, gär nöd schick! Jono, han i tenkt, s chonnt ufs Herz a, nöd uf di chorze Hose. Und daß seb nöd z chorz cho ischt, seb han i sider scho mengmol erfahre.»
Frida Edelmann-Knöpfel (1864-1921)
Thomas Stüssis Eingriff in das Ortsbild, die bestehende Bausubstanz, zeigt auf humorvolle Art und Weise, wie durch clevere Nachahmung und den Einbezug von Stimmen die Geschichte neu befragt werden kann. Der Künstler nutzt die kurzen Hosen von Fridas Gatten Jakob Edelmann als Anlass für seinen künstlerischen Prozess, um über den Goldenen Schnitt eine Referenz zu Jost Bürgis mathematischen Arbeiten zu machen und eine ästhetische Kürzung der Hosen vorzuschlagen. Durch diese Perfektion im Unperfekten entsteht ein interdisziplinärer Dialog über die Generationen hinweg, zwischen Frida, Jost und Thomas.
Dank: Thomas Billeter, Hausbesitzer
Martina Morger
Bella Bells
2023
«Denn han i öppe gmüedet und pfnächzet, öb i jetz denn chöm veruse ode go Bürli verträge oder so, bis si denn aagfange hät predige: «Schäm di ämel au, so e großes Maitli! (...) Drof hät ämel d Mueter gseit, met strengem Blick: «Do ghöörsch es!» (...) Denn hät d Hänsebergeri gseit: «Muescht nöd omebeffle! Das hät üsers Berteli sälig nie tue.» Und i ha tenkt: «Wenn di no de Gugger hole wör, dii, samt dim Berteli sälig.»
Frida Edelmann-Knöpfel (1864-1921)
Am 7. Juli 2023 durchschreitet Martina Morger mit einer Schleppe die Hauptgasse von Lichtensteig. Sie schleift ein Objekt mit Glocken, die Innereien ähneln, geräuschvoll auf dem Boden hinter sich her. Die Glocken können hier sowohl als Zeichen der Ankündigung als auch der Warnung dienen. «Do ghöörsch es!» spricht die Künstlerin auf ihrem Gang vor sich hin und verkörpert die Figur Frida, die 92 Jahre nach ihrem Tod auferstanden ist, um die Worte ihrer Mutter wiederzugeben. Bei der Krone hievt sie schliesslich das Objekt hoch und befestigt es am Obertor. Die Performance ist ein emanzipatorischer Akt, der das Thema des geteilten Leids behandelt und eine Anregung zum Nachdenken über die Geschichtsschreibung: Wer schreibt Geschichte? Wie kann Geschichte neu geschrieben werden? Wie wird Geschichte erzählt?
Dank: Sabina Gränicher, Geschäftsleiterin Chäswelt Toggenburg
Reto Müller
Tafel-Moränensteine-Säule für Lichtensteig
2023
«So e Bachstobe ischt wien e Tubehuus. Do chonnt eso e Wertsfrau, sei s d Pfauewerti, sei s d Leuewerti: «Hend er no frischi Püürli?» Denn e Magd, denn en Goof: «E nüpaches Brot, aber e guet paches» di ei; «nöd so e starch paches» di ander, «me chönnd s nöd biiße.» Eini bringt meh oder weniger appetitlechi Fladeschloorzi, und di ei e Blech voll Chrömli: me sölled s’ämel o nöd verbrene. So lauft und goot all näbis, und so Beckegofe hend e chorzwiligs Lebe.
Frida Edelmann-Knöpfel (1864-1921)
Die dreiteilige Arbeit von Reto Müller besteht aus einer Infotafel mit einem Text von Vincent Hofmann am Eingang zum Parkhaus Wolfhalden; einem in dessen Windungen angebrachten Relief aus Naturstein und einer Basaltsäule als stille Begleiterin im Aufzug am Fusse des brutalistischen Kirchenbaus. Die Arbeit lenkt den Blick auf die Bedeutung von flüchtigen Begegnungen als Teil eines verschlungenen Lebensweges. Erst in der Kombination der drei Teile, will heissen im Abschreiten dieser, eröffnet sich die Fülle an Perspektivenwechseln und lässt zudem den Raum erfahrbar machen.