15.05.2021
Ist ein Set von Regeln, das eine Kunstpraxis anleitet, bereits ein Ritual? Das ist eine der Brücken, die Marcel Hörler zwischen die beiden Künstler moderiert. Doch Jan Hofer mag sich das Pathos nicht aufladen, das immer mitschwingt bei diesem Begriff, und Claudio Näf will jetzt nicht unbedingt an Religion denken. Das sagt er, obwohl in dieser kleinen Runde im Haus zur Glocke in Steckborn eine Arbeit von ihm diskutiert wird, die den Titel «I Am Not a Nihilist» trägt. Auch bei «Gschwür Transport» von Jan Hofer geht es im weiten Sinn um Werte und den gesellschaftlichen Umgang damit. Aber man beobachtet in diesem Gespräch auch, wie die grossen Bögen, die sich zwischen den Arbeiten spannen lassen – oder die Themen, die diese als Nenner auf sich beziehen – hier weniger interessant sind als das Kleinklein der Abläufe und die Reflexionen, die sich um sie kristallisieren.
Also zurück zu den Regeln. Im tiefen Pandemienovember, als seine Auftritte als Dragqueen abgesagt waren, hat Claudio Näf sich selbst auferlegt, für die Dauer eines Jahres jeden Tag eine Zeichnung ins Netz zu stellen. Jeden Sonntag schreibt er dazu: «I am not a nihilist». Die Sinnfrage, die sich der Künstler aus praktischer Hinsicht mit seinen Regeln auf Distanz halten will, wirft er so zurück auf die Betrachter: innen, ohne dass er sie direkt danach fragt. Wollen diese täglichen Miniaturen etwa stückweise Sinn vermitteln? Doch beim Betrachten geraten wir weniger an gewichtige Antworten als ans Gegenteil: hintersinnige Absurditäten, die die Frage zum Tanzen bringen. «I am not a nihilist», sagt ein Strichmännchen auf einer der Zeichnungen; «I am a list» antwortet das mit Zeilen versehene Blatt Papier mit einem Lächeln. Stehen da nun etwa Regeln geschrieben?
Auch bei «Gschwür Transport» folgt Jan Hofer wiederkehrenden Mustern: Aufgeblasene Objekte aus farbiger PVC-Folie mit undefinierbarer Form und sperriger Grösse werden durch den Öffentlichen Raum und Verkehr zwischen einem Aufbewahrungsort und dem nächsten bewegt. Veranlasst werden die Transporte aber von Äusseren Umständen: Zuerst wollte das Aargauer Kunsthaus sie zu sich holen, dann stellte sich bei einer Sortierung des Lagers heraus, dass dort kein Platz mehr für sie war. Das Verweilen im Abseits, weil sich das Öffentliche Interesse wieder von ihnen abgewandt hat, ist genauso Teil der seit 2016 zeitlich undefinierten Aktion wie die inszenierten Transporte. Tatsächlich begann alles mit einem Ausschluss: Hergestellt wurden die Objekte im Rahmen eines Integrationsprojekts für Arbeitslose, bevor diesem das Geld abgedreht wurde und die Objekte in einem dunklen Lager verschwanden. Kann es also auch ein Ritual der Leere geben, das unter der Regel abwesender Aufmerksamkeit vonstatten geht?
Vielleicht lässt sich der Denkspiess auch umdrehen: Wie habt ihrs mit der Unkontrollierbarkeit? Jan Hofer hat gelernt, die Ineffizienz und die feine Komik zu geniessen, die entstehen, wenn die schwer greifbaren Unformen sich knapp durch die Tür einer S-Bahn schieben lassen oder das Strassenpublikum in Form der fremdartigen Objekte Viren vorbeispazieren sieht. Das, was Claudio Näf umgekehrt immer wieder entgleiten kann, wiegt einsamer und schwerer. Wieso kommen die Ideen manchmal in einem kurzen Schub und angetrunken nach der abendlichen Barschicht, und manchmal nach fünf konzentrierten Atelierstunden nicht? Und ist das mögliche Scheitern bedrohlicher oder wahrscheinlicher, wenn das Publikum die Entstehung der Arbeit in periodischer Echtzeit mitverfolgt?
DAVID HUNZIKER
15.05.2021